Ich bin Lehrerin an einer Grundschule, verheiratet und habe zwei Kinder. Mein Bruder ist ein Freigeist, wie man so sagt. Er ist vor zehn Jahren nach Australien ausgewandert und lebt seither in einem umgebauten Van, reist von Ort zu Ort, arbeitet mal als Tauchlehrer, mal als Surflehrer – was halt gerade ansteht. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein. Ich habe immer Sicherheit gebraucht, eine klare Struktur. Daniel, der ist das komplette Gegenteil.
Das Problem ist, dass wir uns seit Jahren voneinander entfremdet haben. Früher waren wir unzertrennlich, haben als Kinder ständig zusammen gespielt, unsere Geheimnisse geteilt. Aber jetzt? Wenn wir reden, sind das oberflächliche Gespräche, und oft endet es in gegenseitigen Vorwürfen. Ich werfe ihm vor, er sei verantwortungslos, er sagt, ich sei spießig und hätte „mein Feuer verloren“. Der Tiefpunkt war unser letztes Telefonat. Ich wollte über den Geburtstag unserer Mutter sprechen, fragte, ob er vielleicht mal nach Deutschland kommen könnte. Seine Antwort? „Wieso, du hast doch alles im Griff.“ Das hat mich echt getroffen.